Patientin aus Hamburg mit langwieriger CMD-Anamnese
Ein langes Gespräch mit schwerwiegendem Inhalt.
Die Patientin quält sich mit folgendem Problem:
Aufbissbehelf drin: Viele Beschwerden sind weg, aber sehr starke Kopfschmerzen sind da!
Aufbissbehelf raus: Kopfschmerzen sind weg, aber viele andere Beschwerden sind da.
Für die Patientin ist das alles sonnenklar. Unter Hinzuziehung der Patientenakte hingegen schon nicht mehr so sehr!
Dazu kommt. Vermutlich zu hohe Seitenzähne aufgrund im Vorwege aufgesetzter "Repositionsonlays"!
Weiterhin: Dentikel im Röntgenbild zu sehen, mit unklarer Auswirkung auf das bestehende Beschwerdeproblem!
Weiterhin: Unklarer Befund einer Chronischen Pulpitis an Zahn 47, wegen vielmonatiger Überlastung durch vollkommen insuffizient hergestellte Repositionsonlays.
Im Ergebnis: Eine Patientin, die mit den Nerven am Ende ist, aber immer noch eigene Vorstellung hat, wie sie meint ihre Behandlung zu erfolgen habe!
Problem: Bisher habe eigene Ideen der Patientin nicht mehr Erfolg gehabt, als die Ideen der konsultierten Ärzte.
Prinzipiell gibt es folgendes Missverständnis: Die Patientin meint zu glauben was sie hat und was ihr helfen könnte ohne konkrete Umsetzungsangaben machen zu können, durch welche Maßnahmen man das Problem konkret lösen könnte. Es besteht das Bedürfnis den direkten Weg zu finden zur Erkrankungsursache und damit zu einer Therapie. Dabei werden Forderungen nach vermeintlichen Untersuchungsverfahren gestellt, die schlichtweg nicht vorhanden sind.
Alle diese Wege waren bisher erfolglos.
Es besteht, angesichts der geschilderten Umstände, nur die Möglichkeit nach dem Ausschlussprinzip vorzugehen. Dazu aber ist es notwendig in diesem Fall auch irreversible Maßnahmen in die Wege zu leiten, bei vollem Risiko, dass nicht wirklich vorher klar ist, ob die ergriffene Maßnahme zum Erfolg führen wird oder nicht!
Das aber will die Patientin nicht.
Einerseits verständlich, andererseits unergiebig, weil nicht die Möglichkeit besteht herauszufinden, ob bestimmte Verdachtsmomente, die unzweifelhaft bestehen, an dem vorhandenen Beschwerdeproblem beteiligt sind.
Eine extrem schwierige und belastende Situation, nicht nur für die Patientin, sondern das gesamte Behandlungsteam.
Das Problem dieses Falles könnte man dahingehend als Metapher beschreiben: Die Patientin steht in einem Schwimmbad auf einem Turm und weiß, dass sie dort oben erfrieren wird, wenn sie dort auf Dauer stehen bleibt. Alle Versuche einen Weg nach unten zu finden sind bisher ergebnislos verlaufen. Es wird aber immer noch nach einem Weg gesucht, mit immer obskureren Methoden und Forderungen, die keinen realisitischen Bezug mehr zu den vorhandenen medizinischen Möglichkeiten und Verfahren haben.
Die einzige Möglichkeit nach unten zu kommen besteht darin in das unten liegende Becken zu springen und zu hoffen, dass dies voll Wasser ist und die Patientin auffangen wird.
Aber...Niemand weiß, ob das Becken voller Wasser ist. Was man hingegen weiß, dass hinterher alle schlauer sind!
Die Entscheidung zu springen, bevor die Patientin auf dem Sprungturm erforen ist, kann nur die Patientin fällen. Die hat aber begreiflicherweise Angst zu springen, ohne zu wissen, ob im Becken Wasser vorhanden ist.
Eine fast unlösbare Situation. Sowohl für die Patientin, als auch den Behandler, der es auch nicht wirklich weiß, ob er mit seiner Vermutung richtig liegt auch nicht einmal halbwegs sicher zu sagen vermag, ob er mit seiner Vermutung richtig liegt, dass das Becken voller Wasser ist.
Eine frühere Lebensgefährtin aus Gevelsberg sagte einmal: "Ich gehe immer nur dann ein Risiko ein, wenn ich weiß, dass es sich hinterher für mich auszahlt, was ich tue!"
"Das ist dann aber kein Risiko", war meine damalige Antwort. So ähnlich ist die Situation hier und jetzt in diesem Behandlungsfall.
Man weiß nicht, ob man mit dem, was man tut, irgendwann einmal ans Ziel kommt. Das Einzige, was man einigermaßen sicher sagen kann, dass man auf der Stelle stehen bleibt, mit all den vorhandenen Beschwerden, wenn man nichts tut!
Hinterher sind dann übrigens alle schlauer! Im Fall des Nichterfolgs verbunden mit allen möglichen Konsequenzen!
So bedauerlich es auch ist, aber nur die Patientin allein kann hier entscheiden, ob sie springt, oder oben auf dem Sturm stehen bleibt und auf ein Wunder hofft und letzten Endes muss dann auch die Patientin mit den Konsequenzen leben. So oder so!
Natürlich möchte das die Betroffene nicht hören, hat diese doch schon die vorhandenen Beschwerden und panische Angst vor vielleicht noch neuen dazu und natürlich sucht sie einen Verantwortlichen, der bereit ist die Last der Entscheidung auf sich zu nehmen und am Besten auch gleich die Last der Verantwortlichkeit!
Man kann verstehen, dass Behandler in einer derartigen Situation kapitulieren und sich zurück ziehen, weil die Möglichkeit zu scheitern sehr real und die dazugehörigen Folgen möglicherweise riesengroß sind, der positive Effekt, sollte das Wagnis glücken, aber eher sehr begrenzt, wie die tägliche Realität der Behandlung zeigt.
Entgegen üblicher Spruchweisheit hat der Erfolg hier viele Mütter, der Misserfolg hingegen nur einen Vater!
Das alles gehört mit zum Thema CMD, nur möchte darüber Niemand sprechen und am einfachsten ist es und wird auch häufig so praktiziert, dass man den Patienten einfach woanders hinschickt, keine Termin mehr hat oder anderweitig verhindert ist.
Das sind Behandlungssituationen, die können Arzt und Patient nur gemeinsam lösen und bestehen. Hierzu bedarf es enorm viel gegenseitigen Vertrauens, weil eben nicht klar ist, dass das Wagnis zwangsläufig belohnt werden wird.
Derartige Situationen kommen selten vor und stellen eine unglaubliche Belastung dar. Man ist als Arzt nicht undankbar, wenn der Patient sich entschließt kein Wagnis einzugehen und mit den bestehenden Beschwerden weiter zu leben, auch wenn dieses Leben für den Patienten nur noch Mühsal und Verlust an Lebensqualität bedeutet. Das sind Situationen, mit denen man lieber nicht konfrontiert werden möchte und doch geschieht es.