Patient aus Bayreuth reist ab
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Das ist ein Fall, der einem deshalb nahe geht, weil man dem Patienten glaubt, dass es ihm sehr, sehr schlecht geht, aber gleichzeitig feststellen muss, dass es zumindest bisher, gerade der Patient ist, der einem möglichen Behandlungserfolg im Wege steht.
Wir rekapitulieren: Beschwerdelevel: 10. Der Patient ist weitgehend arbeitsunfähig.
Es wird ein Aufbissbehelf nach üblichem Standard erstellt, der von Beginn an gut sitzt.
Dem Patienten aber gleichfalls zu hoch erscheint. Wir kommen später darauf zurück.
Für den Patienten ist klar: Meine Beschwerden hängen 1000% mit meinem Biss zusammen!
Nur leider ist es dem Behandler nicht klar, u.a. deshalb nicht, weil der Patient den Aufbissbehelf seit gestern nicht mehr trägt und auch seit gestern Mittag keine Kontrollmaßnahmen mehr wahrgenommen hat, denn nota bene: Der Aufbissbehelf sei zu hoch!
Am Ende des dritten Tages präsentiert der Patienten dann einen Aufbissbehelf, der aus einer tiefgezogenen Folie besteht und darauf sehr unfachmännisch aufgekleckst einem Kauflächenrelief im Bereich der 5er, 6er. Ein Aufbissbehelf, den man weder als adjustiert und noch nicht einmal als nichtadjustiert bezeichnen könnte. Aber, dieser Aufbissbehelf würde die Beschwerden des Patienten um ca. 30% vermindern.
Fachlich gesprochen entspricht dieser Aufbissbehelf einer sogenannten Jigschiene, nur dass der Jig im Seitenzahngebiet sitzt und zu einer Unterbrechung neuromuskulärer Reflexbögen dient. Das wird vermutlich auch der Grund sein, warum dieses Gerät eine Wirkung erzielt, andererseits aber auch nicht dafür sorgt, dass der Patient damit 24 Stunden am Tag durchs Leben gehen möchte. Die größte Überraschung erfolgt allerdings, als sich heraus stellt, dass diese Bissschiene im Bereich der 6er zwischen 3,5 und 4,0 Millimeter stark ist und damit dicker ist, als der am Tag zuvor eingegliederte adjustierte Aufbissbehelf aus Kiel.
Womit bewiesen wäre: Es kann eben nicht an der angeblich zu starken Dicke des Aufbissbehelfs liegen, wie der Patient meint, und die erwünschte Wunderheilung des Patienten in wenigen Stunden erbringen.
Nun kommen wir zu der Geschichte, die hier behandlungsleitend ist.
Ein früherer Zahnarzt habe eine Schiene angefertigt, mit der es dem Patienten richtig gut ging. Nur leider habe der Zahnarzt dann an dem Aufbissbehelf eine subtraktive Veränderung erbracht und mit der Wirkung sei es dann leider aus gewesen. Versuche den Aufbissbehelf wieder aufzubauen, seien auch leider fehlgeschlagen.
Man entnimmt der Angabe: Der vermeintliche Behandlungserfolg scheint nicht reproduzierbar gewesen zu sein.
Aber und das sei schließlich das Entscheidende: Für den Patienten steht fest: Die Beschwerden kommen von seinem Biss und deshalb sei für ihn klar, dass die Lösung seines Problems nur darin liegen könne, dass im schlimmsten Fall 28 Zähne mit Kronen versorgt werden müssten, um seine Beschwerden zu beheben.
Darüber könnte man sich als Behandler ja freuen, nur leider besteht das Problem, dass der Zusammenhang zwar für den Patienten sonnenklar ist, aber eben nicht für den Behandler und der steht letztendlich in der Verantwortung, wenn das alles gar nicht klappen sollte, woran der Patient felsenfest glaubt.
Nun sollte man annehmen, dass ein Patient wie dieser alles dafür tut, um herauszufinden, dass die von ihm vermutete Kausalität zwischen Beschwerden und seinem Biss besteht.
Genau das aber hat hier eben nicht stattgefunden.
Der eingegliederte Aufbissbehelf hat vom ersten Moment an komplikationslos gepasst. Den Biss fand der Patient angenehm. Allerdings, das sei hier eingeräumt, sieht dieser adjustierte Aufbissbehelf vollkommen anders aus, als die „Klecksschiene“, die dem Patienten eine Besserung seiner Beschwerden verschafft, wenn auch nicht wirklich dauerhaft.
Im Nachhinein stellt sich dann durch Nachmessung heraus, dass der erste Ablehnungsgrund, der hier gefertigte Aufbissbehelf sei zu hoch, definitiv nicht besteht. Der Aufbissbehelf ist vertikal niedriger, als besagte „Klecksschiene“. Dies lässt sich innerhalb weniger Sekunden mit einem Meßfühler nachprüfen.
Was aber am meisten bedrückt ist, dass der Patient, nachdem schon der Aufbissbehelf nicht nach seinen Vorstellungen der „Klecksschiene“ ausgefallen ist, bereits nach nicht einmal 24 Stunden Tragezeit des Aufbissbehelfs, die Behandlung defacto abbricht und Kontrolltermine nicht mehrwahrnimmt und das Ganze damit erklärt, der Aufbissbehelf habe seine Beschwerden noch verstärkt.
Natürlich ist das für den Patienten eine unangenehme Entwicklung. Aber! Über diese mögliche Entwicklung wurde der Patient mündlich und schriftlich aufgeklärt, weil es eben regelmäßig vorkommt, dass die muskulären Gewebe, nach Eingliederung eines adjustierten Aufbissbehelfs zu „rebellieren“ beginnen. Das ist nicht ungewöhnlich und per se erst einmal kein schlechtes Zeichen, denn es zeigt eines: Es scheint ein kausaler Zusammenhang zu bestehen!
Genau das Signal, auf das man sehnlichst wartet, um den Nachweis der Kausalität führen zu können.
Genau das, was der Patient macht ist verkehrt. Statt den Dingen etwas Zeit zu geben, wird eine begonnene Diagnostik nach nicht einmal 24 Stunden abgebrochen, weil die Erwartungen des Patienten nicht in Windeseile erfüllt werden können. Das Ganze mit einem Aufbissbehelf, der von Beginn an nicht den Vorstellungen des Patienten entsprach, nämlich dem der „Klecksschiene“, die die Muskulatur des Patienten zwar kurzzeitig entprogrammiert, aber letzten Endes auch keine dauerhafte Linderung seiner Beschwerden verschafft, denn sonst wäre ja die „Klecksschiene“ die Lösung des Problems.
Zur kurzzeitigen Entprogrammierung der Kiefermuskulatur und kurzzeitigen Beschwerdelinderung könnte der Patient genauso gut auf eine Büroklammer beißen. Eine beidseitige Büroklammer nennt sich dann übrigens „Interzeptor nach Schulte“, siehe Abbildung 8.
Das Problem daran ist aber, dass es sich hierbei immer nur um KURZZEITIGE Maßnahmen im Sinne einer Notfallintervention handelt und um keine Kausaltherapie.
Leider ist es nicht gelungen dem Patienten zu verdeutlichen, dass wenn seine Überzeugung, seine Beschwerden hingen 1000% mit seinem Kauorgan zusammen er sich dann am Besten in die Hand eines Spezialisten begibt und keine Komplexdiagnostik bereits nach weniger als 24 Stunden abbricht, weil der Aufbissbehelf zwar den wissenschaftlich gesicherten Standards entspricht, aber nicht seinen individuellen Vorstellungen.
Sich dann der vermeintlich zu hohe korrekte Aufbissbehelf in der Nachmessung als niedriger herausstellt, als die sowohl zur Diagnostik als auch Therapie vollkommen unbrauchbare „Klecksschiene“, die der Patient hingegen ganz toll findet
Dem Behandlungsteam ist die Not des Patienten klar.
Dem Patienten ist leider nicht klar, dass eine erfolgreiche Behandlung, inklusive der damit verbundenen Diagnostik, nicht nach den Vorstellungen des Patienten stattfinden kann, sondern nach den wissenschaftlich gesicherten und täglich erprobten Vorgaben der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik und –therapie.
Was bleibt die Erkenntnis dieses Falles?
"You never walk alone!"
Vielleicht findet der Patient, nachdem er weitere Zahnärzte erfolglos mit seinen nicht erfüllbaren Vorstellungen konfrontiert hat zu der Einsicht, dass es auch in diesem Fall weder eine Wunderheilung geben wird, sondern im besten Fall ein hartes Stück Arbeit zu erbringen ist, damit es dem Patienten am Ende hoffentlich besser geht.
Das sind eben auch die täglichen Probleme in der Arbeit mit CMD Patienten, die, das muss man sich immer vor Augen halten, bedingt durch jahrelange Schmerzen oftmals am Rande ihrer Möglichkeiten stehen.
Das bedeutet aber nicht, dass der Behandler sich deshalb veranlasst sieht die Prinzipien einer belastbar wissenschaftlichen Zahnmedizin aus den Angeln zu heben.
Es bleibt nicht aus dem einen oder anderen Patienten gelegentlich zu sagen, dass seine Vorstellungen unrealistisch sind und damit auch in Kauf zu nehmen nicht in die heutige "Freundesliste" aufgenommen zu werden.
Das kann sich aber auch wieder ändern.
Jeder Patient hat das Recht sich zu irren und Umwege zu gehen. Auch dieser Patient hat die Möglichkeit irgendwann wieder nach Kiel zu kommen!
Es bleibt nicht aus, dass auch ein Behandlungsteam, das derartige Fälle jeden Tag erlebt, mit derartigen Abläufen unzufrieden ist, aber damit leben muss.