Langjährige Patientin aus Eckernförde zur PAR-Behandlung
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Per se wäre das nur ein kurzer Eintrag.
Allerdings ist die Patientin GKV versichert. Und da liegt das Problem. Denn im Verlauf der Jahre hat eine Kostendämpfungsmaßnahme nach der anderen dazu geführt, dass es fast unmöglich ist bei einem GKV-Versicherten eine suffiziente PAR-Behandlung zu erbringen.
Dabei ist die Kenntnis folgender Fakten bei der Beurteilung des Sachverhaltes hilfreich:
Man geht davon aus, dass 80% der Bevölkerung Symptome im Sinne einer Parodontitis aufweisen.
Gleichsam gehen bei den über 35-jährigen 80% der Zahnverluste auf das Konto von Parodontalerkrankungen.
Zahnverluste wiederum führen zwangsläufig zu kostenintensivem Zahnersatz, der, wie es der Name schon sagt: fehlende Zähne ersetzen soll.
Man muss daher nicht studiert haben, um zu verstehen, dass es eigentlich das Beste und Effektivste wäre alles dafür zu tun, dass der Patient seine eigenen Zähne behält. am besten lebenslang.
Und hier beginnt dann auch schon das erste Missverständnis des GKV-Versicherten.
Nein, Ihre Krankenkasse hat kein Interesse daran, dass Sie möglichst lange mit Ihren eigenen Zähnen das Leben genießen können.
Ihre Krankenkasse hat ein Interesse daran, dass Sie mit den Maßnahmen der Sozialversicherungszahnheilkunde in der Lage sind am sozialen Leben teilzuhaben.
Das können Sie übrigens auch ohne Zähne, mit Plastikprothesen.
Damit Sie mal über den Daumen gepeilt das Problem abschätzen können.
Was ist in der Zahnheilkunde teuer?
Festsitzender Zahnersatz, also Kronen und Brücken und hochwertiger teilprothetischer Zahnersatz. Durchaus auch Füllungen und Maßnahmen den vorhandenen Zahnbestand und den Kieferknochen zu erhalten. Implantate sowieso, deshalb sind die gar nicht erst im Kassenbehandlungskatalog enthalten.
Was hingegen ist spottbillig in der Zahnheilkunde?
Alles, was herausnehmbar und aus Plastik ist.
Was wäre also aus Sicht der Sozialversicherungsmedizin das Ideale?
Möglichst schnell alle eigenen Zähne raus und eine Plastikprothese rein.
Das hört sich verrückt an, war es aber noch in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts durchaus gängige Praxis, dass sich Leute mit geringem Einkommen frühzeitig alle Zähne haben entfernen, eine Plastikprothese inkorporieren lassen, um sich teure Zahnbehandlungen zu ersparen.
So jedenfalls war das noch bei den Großeltern des Verfassers, die beide, ihr ganzes Leben lang, in einer Fabrik gearbeitet haben. Besser wurde das erst mit den gesundheitspolitischen Maßnahmen der sozialliberalen Koalition und kippte dann geradezu ins Gegenteil um. Damals die "Goldenen Jahre der Zahnheilkunde", als jeder Zahnarzt Millionär wurde, ob er wollte oder nicht. Das negative gesellschaftliche Bild der Zahnärzteschaft ist noch durch diese Zeit und bis heute geprägt und wird gerne von Gesundheitspolitiken bemüht um ganz berechtigte Forderungen der Zahnärzteschaft, so u.a. die einer Honoraranpassung in der GOZ, nach inzwischen 35 Jahren Gebührenstillstand zu desavouieren.
Denn was macht der Gesundheitspolitiker am liebsten?
Dem gemeinen Wahlvolk alles zu versprechen und denen, die es erbringen sollen, möglichst wenig dafür zu bezahlen.
Die Wahlversprechen werden also nicht von der Politik bezahlt, sondern den sogenannten "Leistungserbringern", mit denen man die Menschen diskriminiert, die jeden Tag in Krankenhäuser und Arztpraxen laufen, um den Patienten zu helfen.
Von der Nachsorge wollen wir erst gar nicht sprechen.
Dazu ein kurzes Beiwort: Recall dient dazu die einmal im Rahmen einer regulären Parodontalbehandlung gesäuberten Wurzeloberflächen und Zahnfleischtaschen, in regelmäßigen zeitlichen Intervallen, immer wieder aufs Neue zu reinigen.
Nun gelint es vielleicht bei jeder Maßnahmen 90% der Beläge zu entfernen. 10% aber bleiben drin.. So ist auch verständlich, dass es mit diesen regelmäßigen Recallmaßnahmen zwar möglich ist ein parodontales Rezidiv hinauszuzögern, auf lange Zeit gesehen aber ist dann irgendwann wieder eine reguläre Parodntalbehandlung notwendig.
Wir versuchen das Problem jetzt mal kurz und verständlich zu erklären.
Bis 2004 war es so:
Patient musste zur Zahnsteinentfernung. Dabei wurden die Zahnfleischtaschen gemessen. Wenn 14 Tage später noch Taschentiefen von 2 mm und mehr vorlagen, dann wurde eine Parodontalbehandlung durchgeführt. Dabei blieb es dem Zahnarzt überlassen, wie er diese Behandlung technisch durchführte.
Nun war es damals nicht etwa so, dass PAR-Behandlungen in inflationärem Maßstab durchgeführt wurden, sondern auch damals schon wurde beklagt, dass 1/3 der Zahnarztpraxen überhaupt keine PAR-Behandlungen durchführten. Man hätte also dafür sorgen müssen, dass die Hemmschwelle sinkt, denn dass Parodontitis eine Volkskrankheit darstellt war damals bekannt und ist es heute erst recht.
Statt nun also möglichst niedrige Standards für eine per se gewünschte Form der Behandlung zu etablieren, die dazu dient dem Patienten seine Zähne zu erhalten, passierte etwas ganz anders. Es kam eine Kostendämpfungsmaßnahme.
Ab 2004, sozusagen über Nacht musste der Patient auf einmal mindestens 4 mm tiefe Taschen aufweisen.
Nachvollziehbarer Hintergrund der Maßnahme? Kostendämpfung!
Dann gab es eine sogenannte geschlossene Kürettage und zwar zu einem um 20% abgesenkten Kassenhonorar.
Ab 6 mm tiefen Taschen gab es dann die offene Kürettage, und zwar zum selben Preis wie vorher die Behandlung, bei der es dem Zahnarzt freistand, wie er diese durchführte.
Das Ganze beruhte auf universitären Studien, die in der Regel mit der Realität so viel zu tun haben, wie die Werbung von der lila Milka Kuh mit der Realität der Milch- und Schokoladenproduktion.
Immer wieder, leider auch in diesem Bereich, so wie schon in der Corona Pandemie lässt sich die Wissenschaft zur Hure der Politik machen, denn die Arbeitsbedingungen in einer Universitätsklinik sind nachvollziehbarerweise vollkommen andere, als in der niedergelassenen Praxis. Nicht umsonst sind Universitätskliniken hoch defizitär, weil sie mehr kosten, als sie einbringen. Genau das aber kann sich der niedergelassene Arzt nicht leisten, dann ist er nämlich pleite.
Nun muss man wissen, dass sich das Gros der PAR-Patienten bei 4-5 mm tiefen Taschen einfindet. Also, die 6 mm tiefe Tasche war praktisch kaum zu erreichen und zudem wurde fast jeder Fall begutachtet, ob denn der Zahnarzt die Taschen nicht etwa zu tief gemessen hatte.
Nun kam vor ca. 2 Jahren die sogenannte S-3-Leitlinie Parodontologie auf den Markt und damit begann dann zwar erst die große Hoffnung und nun inzwischen die große Verzweiflung bei Deutschlands Kassenzahnärzten.
Auf einmal sollten die modernsten Erkenntnisse der Wissenschaft in die Kassenzahnheilkunde einfließen.
Schon da musste man stutzig werden, wenn einem Kollegen nun auf einmal erzählten, wie toll es sei AOK Patienten zu behandeln.
So zum Beispiel die Erkenntnis, die wir schon seit 30 Jahren pflegen, dass PAR-Patienten alle drei Monate in einen Erhaltungsrecall eingebunden werden sollten. Das Ganze zu einer Zeit, als es immer hier: "Einmal im Jahr zum Zahnarzt, reiche schon!"
Nun stellt sich aber in der Realität heraus, dass die administrativen Anforderungen, damit ein Kassenpatient überhaupt eine PAR-Behandlung erhält, derart hochgeschraubt sind, dass sie unter realen Bedingungen kaum zu erfüllen sind. Noch schlimmer aber, die mindestens genauso wichtigen Maßnahmen der Nachsorge, heute als UPT (Unterstützende Parodontalbehandlung) bezeichnet, sind mit einem normalen Patienten aus Fleisch und Blut in der Realität als nicht umsetzbar erweisen und zudem nur zwei Jahre andauern dürfen.
Der neueste Schrei ist nun aber auch noch der, dass PAR-Behandlungen, entgegen der ersten Ankündigung, nun doch budgetiert werden.
Was bedeutet das auf hochdeutsch?
Der Zahnarzt darf zwar so viele Behandlungen durchführen, wie es eben die Situation bedarf. Bezahlt bekommt er aber höchstens eine festgelegte Zahl an Behandlungen. Um das Thema auf die Spitze zu treiben, weiß der Zahnarzt dabei erst hinterher, wie viele Behandlungen, von denen, die er erbracht hat, überhaupt bezahlt werden.
Was ist dann also mit den Behandlungen, die er erbracht hat und wegbudgetiert werden?
Die bezahlt der Zahnarzt aus eigener Tasche. So liebe Sozialpolitiker funktioniert das Gesundheitswesen.
Pervers, nicht wahr?
Das ist die Realität im deutschen Sozialversicherungsgesundheitswesen.
An diesem Beispiel kann man einmal mehr die ganze Verlogenheit, eben auch im Gesundheitswesen studieren. Da wird etwas propagiert und den Beteiligten versprochen und vorgegaukelt und wenn es dann an die konkrete Umsetzung geht, ist schlichtweg kein Geld da.
Dabei sind für alle möglichen anderen Dinge Geld da, wie wir jeden Tag erleben dürfen.
In diesem Fall lag die Sache nun so, dass man an den Zähnen der Patientin die Konkremente, nach einer Zahnentfernung sehen kann. Was noch lange nicht bedeutet, dass man deshalb auf die geforderten Zahnfleischtaschentiefen kommen müsste.
Das, was man eigentlich, aus medizinischer Überzeugung tun wollte, nämlich die Zahnfleischtaschen öffnen, um die Konkremente unter Sicht zu entfernen, hätte aber mindestens 6 mm tiefe Taschen vorausgesetzt. Da bei der Patientin aber parodontitisbedingt, bereit die Hälfte des ursprünglichen Alveolarkonochens verschwunden ist, würde eine 6 mm tiefe Zahnfleischtasche voraussetzen, dass die Zähne der Patientin gar nicht mehr im Knochen stehen. Völlig absurd, und genauso Realität.
Nach langer Beratung hat sich die Patientin daher für eine Behandlung entschieden, die nach den Vorgaben der Sozialversicherung schlichtweg nicht zu erbringen ist, obwohl sie medizinisch sinnvoll und auch notwendig ist.
Das ist die Realität, mit der wir zu tun haben.
Wer nun glaubt, man müsse dieses System verbessern oder daran arbeiten, dass es besser werde, der lebt in einer anderen Republik.
So wie vieles, was wir täglich erleben, sind die Bestimmungen und Maßnahmen mit gesundem Menschenverstand nicht nachvollziehbar und führen nur, und das immer mehr dazu, dass sich eine innere Distanz zwischen den Leistungserbringern im Gesundheitswesen und den Verantwortlichen in der Politik bildet.
Wer glaubt, dass Herr Prof. Lauterbach auch nur im Ansatz eine Ahnung von den Problemen hat, mit denen die niedergelassenen Ärzte und anderen Gesundheitsdienstleistern, jeden Tag konfrontiert sind, der glaubt auch, dass wir in diesem Land auf einem guten Weg sind.
Dabei ist es nicht zu viel gesagt, dass jedem Arzt empfohlen sei, sich stetig darüber zu informieren, welche juristischen Auflagen er zu erfüllen hat, die er nicht einmal kennt und kennen kann, deren Einhaltung aber tagtäglich von ihm gefordert werden.