Die Lage in den Arztpraxen dieses Landes ist ernst, da es überall an Medizinischen Fachangestellten mangelt. Diese ohnehin dramatische Situation dürfte sich mit der von Gesundheitsminister Karl Lauterbach angestrebten Klinikreform weiter zuspitzen. Ein Arzt warnt sogar vor einem „Riesen-Sicherheitsrisiko“ infolge dieser Entwicklung.
600 Medizinische Fachangestellte (MFA) fehlen allein im Großraum München. Die bayerische Landeshauptstadt steht exemplarisch für ein Problem: In Deutschlands Arztpraxen werden die fachqualifizierten Helferinnen und Helfer knapp. Mit fatalen Folgen, denn ein Pfeiler von Lauterbachs angestrebter Klinikreform ist die zunehmende Ambulantisierung – also Patienten raus aus der Klinik und rein in die Praxen zu bringen. Doch ohne Personal ist das nicht zu stemmen und birgt sogar lebensbedrohliche Risiken, warnen mehrere Experten im Gespräch mit FOCUS online.
Unzufriedenheit führt zu bedrohlichem Fachkräftemangel in den Arztpraxen
„Man muss den Finger in die Wunde legen und sagen: Die MFA sind oftmals nicht adäquat bedacht worden – in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch in der gesundheitspolitischen Debatte“, sagt Gesundheitsökonom Andreas Beivers. Vor allem in der Pandemie, als anderen sozialen, systemkritischen Berufen wie etwa Pflegekräften
zurecht großer Dank und Unterstützung zukam – etwa in Form des Coronabonus – seien die MFA leer ausgegangen.
Das hätte zu einer „dramatischen Unzufriedenheit“ in einer ohnehin schon angespannten Lage geführt. Nicht allein niedrige Löhne seien der Grund für diese Unzufriedenheit und dem damit einhergehenden bedrohlichen Fachkräftemangel in den Arztpraxen. Laut einer Studie der Hochschule Fresenius in München, im Auftrag der Felix Burda Stiftung und unter Beivers Leitung, empfinden über 85 Prozent die Bezahlung zwar als schlecht bis sehr schlecht, daneben klagen 83 Prozent der meist weiblichen Angestellten über eine zu hohe Arbeitsbelastung und 70 Prozent über mangelnde Wertschätzung.
Die bundesweite Befragung erfasste 1205 überwiegend in Praxen beschäftigte MFA. 50 Prozent von ihnen sagten, dass sie auf Grund ihrer Arbeitslast nicht mit der nötigen Sorgfalt auf Patienten eingehen könnten. Häufig raube ihnen zu viel Bürokratie die Zeit für ihre medizinische Aufgaben. Die Fachangestellten beklagten sowohl eine zunehmende Ruppigkeit vieler Patienten wie auch die fehlende Anerkennung von Praxisinhabern. 69 Prozent wünschen sich mehr Aufstiegschancen. 80 Prozent erwägen den Job oder gar die Branche zu wechseln.
Die Lage dürfte sich weiter zuspitzen. Denn: „Perspektivisch brauchen wir vor allem aufgrund der gesundheitspolitisch gewollten Ambulantisierung, in Kombination mit einer älter werden Gesellschaft, mehr MFA“, so Beivers.
„300 geplante Darmkrebsvorsorgeuntersuchungen – wir mussten sie alle streichen“
Das fehlende Personal birgt enorme Risiken, wie der Gastroenterologe Berndt Birkner erklärt. Deutlich wird das an einem Beispiel aus seiner Praxis. Weil zwei seiner MFA überraschend den Job wechselten, musste er seine Praxis für sechs Wochen dichtmachen. „300 geplante Darmkrebsvorsorgeuntersuchungen – wir mussten sie alle streichen.“ Darmkrebs gehört zu den häufigsten Krebserkrankungen in Deutschland. Der Vorsorge kommt hier eine entscheidende Rolle zu, denn das rechtzeitige Erkennen kann die Heilungschance erheblich verbessern, teils sogar die Erkrankung ganz verhindern.
Wenn es am Personal fehlt, könne die Leistung entweder gar nicht mehr erbracht werden oder „nur noch unter Einbußen der Qualität und der Sicherheit“, warnt Birkner, der auch Präsident des Netzwerks gegen Darmkrebs ist. Die Patientinnen und Patienten würden schon jetzt wegen zu langer Warte- oder Wegzeiten klagen und auch diese Probleme werden sich verschärfen. „Aber viel schlimmer noch ist der riesige Qualitäts- und Sicherheitsmangel, der auf uns zukommen wird.“
Es gebe immer mehr offene Stellen bei immer weniger Personal – „solange diese Schere nicht zusammengeht – und das sehe ich momentan nicht – wird es leider auf eine Katastrophe zulaufen.“
Was muss passieren, um die Lage langfristig zu verbessern?
Ein erster Schritt ist nun getan. Nach einem Warnstreik einigte sich der Verband medizinischer Fachberufe (vmf) mit der Arbeitsgemeinschaft zur Regelung der Arbeitsbedingungen für Arzthelferinnen/Medizinische Fachangestellte (AAA) auf eine Erhöhung der Gehälter. Sie liegen für MFA derzeit im Mittel bei 2778 Euro. Bei den Sozialversicherungsfachangestellten der Krankenkassen, wohin MFA häufig abwandern, sind es 4292 Euro. Das Ergebnis der Tarifverhandlung soll am 20. Februar bekanntgegeben werden.
„Das ist ein erster wichtiger Schritt“, erklärt Hannelore König, vmf-Präsidentin. Sie organisierte den Warnstreik und führte Tarifverhandlungen mit der AAA. „Denn wir wissen, dass die wichtigste Stellschraube bei der Arbeitszufriedenheit das Gehalt ist.“ Sie sieht die Politik in der Pflicht, die Gegenfinanzierung auch abzusichern. „Bislang müssen die Praxisinhaber einen Großteil der gestiegenen Personalkosten übernehmen.“ Helfen könnte zudem ein Branchen-Mindestlohn für alle Gesundheitsberufe und sozialen Berufe als Lohnuntergrenze. Weitere Rahmenbedingungen müssten folgen: Flexiblere Arbeitszeiten, betriebliche Gesundheitsvorsorge, höhere Qualifizierungen durch Fort- und Weiterbildungen, weniger Bürokratie und die Absicherung vor Altersarmut, nennt sie als Beispiele.
„Ohne diese Menschen würde unser Land nicht funktionieren!“
Alle drei Experten sehen zudem mangelnde Wertschätzung als wesentlichen Faktor, den es zu beheben gilt. „Es muss in der Gesellschaft ankommen, dass es sich hier um eine medizinische Fachausbildung handelt, die anspruchsvoll ist und je nach Fachrichtung sehr, sehr differenziert“, erklärt Facharzt Birkner. In seinem Fall unterstützen die MFA bei Darmspiegelungen, in der Dermatologie oder bei einem niedergelassenen Chirurgen teils bei Operationen. „Es sind wirklich komplexe Aufgaben, die hier wahrgenommen werden.“ Generell mehr Wertschätzung für alle sozialen Berufe sei wichtig. „Denn ohne die Menschen in diesen Berufen würde unser Land nicht funktionieren!“
Verbandspräsidentin König appelliert an die Politik, keine falschen oder verfrühten Versprechungen zu kommunizieren. „Die Wut der Patienten, beispielsweise wegen fehlender Impfstoffe oder Medikamente, abgelehnter Heilmittel oder der nicht funktionierenden Digitalisierung kriegen die MFA ab“, kritisiert sie. „Bundesgesundheitsminister Lauterbach oder auch jeder andere Politiker sollte einmal für einen Tag in eine Praxis kommen und sich auf den MFA-Arbeitsplatz setzen. Dann sehen sie, welche Probleme 'hier im Maschinenraum' tatsächlich eine Rolle spielen.“